„Authentisch sein!“

Eine der beliebtesten Antworten auf die Frage, was einen guten Lehrer ausmacht.

Wer möchte da widersprechen?

Ich.

Aus Gründen.

Aus fünf Gründen.

Grund 1: Authentizität ist rücksichtslos.

Wenn ich jemand bin, der meine Schüler respektiert, ist es gut, wenn ich authentisch bin und meinen Schülern auch zeige, dass ich sie respektiere.

Aber welcher Lehrer ist immer gut drauf, so dass er gut zu den Schülern ist?

Was ist, wenn ich müde und gereizt bin? Ein authentischer Lehrer müsste somit müde und gereizt sein und lässt die eigene gereizte Stimmung seine Schüler spüren.

Weil er authentisch ist und sich nicht verstellt.

Authentizität ist also rücksichtslos zu anderen, weil die eigene Echtheit vor die Bedürfnisse der anderen gestellt wird.

Und wehe den Schülern, wenn ein übergriffiger Lehrer authentisch seine Übergriffigkeit auslebt.

Authentizität ist somit rücksichtslos.

Grund 2: Es kann gut sein, nicht authentisch zu sein.

Bin ich ein guter Ehemann, wenn ich mich gehen lasse – oder bin ich nicht eher ein guter Ehemann, wenn ich nicht das tue, wonach mir ist, meinen inneren Schweinehund überwinde und den stinkenden Windelkübel entleeren gehe?

Ist eine Mutter authentisch, wenn sie in der Nacht aufsteht, um ihr Kind zu stillen?

Gott sei Dank macht sie das.

Aber authentisch ist es nicht, denn umdrehen und weiter schlafen wäre ein authentischeres Verhalten in dieser Situation.

Um gut zu handeln, müssen wir auch und besonders das Unangenehme tun. Denn es kann gut sein, nicht authentisch zu sein.

Grund 3: Ist Authentizität für mich authentisch?

„Wir sind alle Individuen.“

– „Ich nicht.“

Diese berühmte Szene aus dem Monty Python Film „Das Leben des Brian“ bringt es auf den Punkt. Eine Menschenmenge drückt ihre Individualität kollektiv aus.

Da braucht es doch den individuellen Widerspruch!

Heutzutage würde man aber sagen:

„Wir sind alle authentisch!“

– „Ich nicht. „

Authentisch zu sein, wird als sozial erwünschte Antwort erwartet.

Keine Lehrerfortbildung ohne diese erlösende Formel: Authentisch sein – und alles wird gut.

Widerspruch ist nicht erwünscht.

Umso mehr muss ich mich fragen, ob es für mich authentisch ist, authentisch sein zu wollen?

Denn diese Frage bleibt: Ist authentisch zu sein für mich authentisch?

Grund 4: Authentizität ist unreif.

Mein Kind sitzt am Klo und will sich auf einmal nicht mehr von mir den Hintern mit Klopapier abwischen lassen. „Großer Bub, selber machen“ sagt er stolz.

Authentisch besteht von der Wortwurzel aus zwei Wörtern:

Selbst.

Vollenden.

Martin Luther würde authentisch übersetzen: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“

Authentisch zu sein meint: verbürgt, echt.

Weil ich es selbst vollendet habe, stehe ich dafür mit meinem Namen ein.

Es ist mein Schatz.

Jetzt ist „selber vollenden“ nicht der Weisheit letzter Schluss.

Ist selber machen besser als es gemeinsam zu machen?

Ist sich selbst isolieren besser sich gegenseitig zu helfen?

Das Urteil der Entwicklungspsychologie ist eindeutig: Wer immer alles selber machen möchte, ist auf der Stufe eines Kindergartenkindes stecken geblieben.

Denn diese Selber-machen-Authentizität ist unreif.

Grund 5: Was ist dein Grund?

Vielleicht haben dich die Zeilen zum Nachdenken gebracht.

Vielleicht hast du mitgedacht und mitgezählt – dann siehst du, dass mein fünfter Grund noch frei ist.

Beantworte doch bitte im Kommentar, was dein Grund ist, warum „authentisch sein“ keinen guten Lehrer ausmacht!